Abendveranstaltung am 14. September 2022 im Erbacher Hof, Mainz

„Der Synodale Weg auf dem Prüfstand. Hintergründe, Erfahrungen, Perspektiven“

Impulsreferat

Der Synodale Weg - eine pastoraltheologische Einordnung

von Prof. Dr. Philipp Müller

Sehr geehrter, lieber Herr Bischof Kohlgraf,
meine sehr geehrten Damen und Herren – hier im Erbacher Hof und am Bildschirm,
in meinem Impulsreferat soll es um eine pastoraltheologische Einordnung des Synodalen Weges und seiner Reformagenda gehen. Dazu möchte ich mit Ihnen grundsätzlich darauf schauen, wie in der Kirche Reformprozesse ablaufen, und knüpfe an den Essener Katholikentag an, der Anfang September 1968 stattfand. Dessen Motto „Mitten in der Welt“ hatte ins Schwarze getroffen, denn in Deutschland brodelte es damals kräftig. Die Studentenunruhen waren von Frankreich übergeschwappt, in Hamburg wurde der Slogan skandiert: „Und unter den Talaren, der Mief von 1.000 Jahren“. Und kurz vor dem Katholikentag hatten Truppen des Warschauer Paktes den Prager Frühling gewaltsam niedergeschlagen.
Auf dem Essener Katholikentag erregte besonders die Enzyklika Humanae vitae die Gemüter. Mit ihr hatte Papst Paul VI. am 25. Juli, also sechs Wochen zuvor, den Eheleuten die Anwendung empfängnisverhütender Mittel verboten. Ende August waren die deutschen Bischöfe mit ihrer „Königsteiner Erklärung“ darum bemüht, dieses Verbot durch Verweis auf die persönliche Gewissensentscheidung zu entschärfen. Doch Papst Paul VI. hielt zeit seines Lebens an seiner Position fest. Bezeichnend ist das Grußwort an die Teilnehmer des Essener Katholikentags. Es wurde beim Abschlussgottesdienst am Sonntag verlesen. Darin mahnt er:

„Nicht wenige aber nehmen heute für sich die Freiheit in Anspruch, ihre rein persönlichen Ansichten mit jener Autorität kundzutun, die sie offensichtlich dem streitig machen, der von Gott dieses Charisma besitzt. Man möchte gerne erlaubt wissen, dass jeder in der Kirche meinen und glauben kann, was ihm beliebt. Dabei bedenkt man aber nicht, dass nur der sich voll und ganz in den Dienst der Wahrheit stellt, der sich dem Lehramt der Kirche unterordnet.“

Man vergleiche den Stil dieses Grußworts mit dem Brief von Papst Franziskus „An das pilgernde Volk Gottes in Deutschland“ aus dem Jahr 2019, mit dem er auf den Synodalen Weg Bezug nimmt und auf den ich später noch eingehen werde. Auch Papst Franziskus teilt seine Besorgnis mit, aber er argumentiert und will seine Adressaten für sich gewinnen. Die Worte „Lehramt“, „Autorität“, „unterordnen“ und „Gehorsam“ verwendet er nicht. Der Stil, wie der Bischof von Rom seine Lehrautorität ausübt, ist heute ein anderer als vor 50 Jahren.
Vom Essener Katholikentag ging ein wichtiger Impuls zur Einberufung der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, der Würzburger Synode, aus. Sie fand von 1971 bis 1975 statt und zielte darauf, die Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils für die Kirche in der Bundesrepublik Deutschland fruchtbar zu machen. Wie heute beim Synodalen Weg war auch damals das Zentralkomitee der Deutschen Katholiken miteinbezogen.
Was ist aus der Würzburger Synode geworden? 18 Texte wurden verabschiedet, darunter Klassiker wie „Unsere Hoffnung“ oder die „Ziele und Aufgabe kirchlicher Jugendarbeit“.
Die Würzburger Synode hat die Kirche in Deutschland in vielerlei Hinsicht geprägt. Seitdem bringen sich vielerorts getaufte und gefirmte Christen in die Erstkommunion- und Firmkatechese ein. Der Beruf „Pastoralreferent“ wurde etabliert. In kirchlicher Jugendarbeit und im Religionsunterricht wurde ein induktiver, erfahrungsbezogener Ansatz bestimmend. Am Ende wurden 16 Voten nach Rom geschickt, auch zum Diakonat der Frau. Von diesen 16 Voten wurden nur vier definitiv beantwortet, teils ablehnend wie der Wunsch nach Einführung weiterer Hochgebete für Jugendliche, teils positiv wie die Bitte um Abhaltung einer Gemeinsamen Synode alle zehn Jahre. Zehn Voten wurden vom Kardinalstaatssekretär zusammenfassend dahingehend beantwortet, dass sie nur bei einer Reform des Kirchlichen Gesetzbuchs berücksichtigt werden könnten, was bei der Neufassung des CIC im Jahre 1983 jedoch nicht geschah. Dort haben die Voten der Würzburger Synode keine sichtbaren Spuren hinterlassen.
Welche Rückschlüsse lassen sich daraus für den Synodalen Weg ziehen? Je mehr dieser sich auf Themen konzentriert, die im Verantwortungsbereich der deutschen Bischöfe liegen, umso realistischer ist eine zeitnahe Umsetzung. Und je stärker „dicke Bretter“ gebohrt und die Beschlüsse der Zustimmung auf weltkirchlicher Ebene bedürfen, desto höher liegen die Hürden. Das heißt nicht, dass nicht Themen identifiziert und vorangetrieben werden sollten, die zur letztgenannten Kategorie gehören. Aber die Wahrscheinlichkeit der Frustration, wenn sich letztlich kaum etwas ändert, ist hier wesentlich größer.
Ein weiterer Hinweis: Im Blick auf kirchliche Veränderungsprozesse kann man auf eine regionale Diversifizierung setzen, wie dies bei den Ständigen Diakonen jetzt schon der Fall ist. In vielen Ländern gibt es sie, in anderen Ländern nicht. Eine solche differenzierte Praxis je nach Votum der Bischofskonferenz ist jedoch nur bei Themen realistisch, in denen sich das Lehramt nicht verbindlich festgelegt hat. Um es konkret zu machen: In der Frage der Zulassung von Frauen zum Priesteramt hat sich das kirchliche Lehramt unter Papst Johannes Paul II. in einer Weise positioniert, dass eine Änderung in absehbarer Zeit nicht realistisch ist – so pastoral drängend gerade die Frauenfrage auch ist und obwohl die Mehrzahl der Theologen und Theologinnen im deutschsprachigen Raum die traditionelle Argumentation für brüchig hält. Aber schon die Theologen unserer Nachbarländer Polen und Frankreich bewerten die Frage mehrheitlich anders. Die Sorge ist berechtigt, dass die Priesterweihe von Frauen die römisch-katholische Kirche spalten und einen Bruch mit den Kirchen der Orthodoxie mit sich bringen wird.
Skeptisch sehe ich auch die Überlegung, alternativ zur Ordination von Frauen diese zu Gemeindediakoninnen zu segnen (nicht zu weihen), ohne dass sie den männlichen Diakonen ebenbürtig sind und eher den jetzigen Gemeindereferentinnen entsprechen. Eine solche Strategie würden viele als Etikettenschwindel empfinden und schnell entlarven. Für realistisch halte ich es hingegen, „viri probati“ – also bewährte verheiratete Männer – zu Priestern zu weihen. Die Amazonassynode hat hier einen sehr niederschwelligen Vorstoß gewagt, den Papst Franziskus nicht adaptiert, aber auch nicht verworfen hat. Aber klar ist auch: Sollte es zu „viri probati“ kommen, dann würde dies die Frauenfrage bei uns nochmals verschärfen.

Anlass für den Synodalen Weg ist der Missbrauch in der katholischen Kirche, der letztere in eine tiefe Krise gestürzt hat. Umfragen belegen, wie sehr die Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche in unserem Land beschädigt ist. Wissenschaftliche Studien haben herausgearbeitet, dass systemische Ursachen sakralisierte Gewalt in der Kirche begünstigt haben. Mit diesen systemischen Ursachen haben sich die deutschen Bischöfe bei ihrer Frühjahrsvollversammlung im März 2019 in Lingen im Emsland auseinandergesetzt. Drei Themenkreise standen zur Debatte: der Umgang mit Macht in der Kirche, die Zukunft der priesterlichen Lebensform und die kirchliche Sexualmoral. Ich selbst hatte die ehrenvolle Aufgabe, über die Zukunft der priesterlichen Lebensform zu referieren. Diese drei Themenkreise wurden dann in die Foren des Synodalen Weges überführt, ergänzt durch ein viertes Forum zur Rolle der Frauen in der Kirche.
Die Beratungen des Synodalen Weges ergeben eine Art Bestandsaufnahme, wie sich der gewachsene christ-katholische Glaube und seine Strukturen auf der einen und modernes Lebensgefühl und Denken auf der anderen Seite zueinander verhalten. Er identifiziert die Themen, in denen heutige Christen Spannungen und Ungereimtheiten erleben, und er formuliert Voten, in welche Richtung die katholische Kirche sich weiterentwickeln sollte. Aber soziologisch ist auch klar: Selbst wenn wesentliche Forderungen des Synodalen Weges mit einem Mal umgesetzt würden, dann nähme das zwar etwas von dem Druck, der derzeit auf der Kirche in unserem Land lastet, aber es würde den Prozess der Entkirchlichung unserer Gesellschaft nicht umkehren.
Immerhin zeigen die Beratungen des Synodalen Weges, dass das freie, offene Wort möglich ist und die Kompetenz der Theologinnen und Theologen ernstgenommen wird – bis hin zur theologischen Debatte, ob es neben und vielleicht sogar über dem Lehramt der Bischöfe ein Lehramt der Theologie gibt (vgl. die Beiträge in der Herder Korrespondenz). Tatsächlich ist unter dem Pontifikat von Papst Franziskus eine Debattenkultur in der Kirche möglich geworden, wie das vor zehn Jahren kaum vorstellbar war. Papst Franziskus ist sich wohl dessen bewusst, dass es kontraproduktiv wäre, lediglich auf Autorität und Gehorsam zu bestehen. Mit Recht! Unsere Zeitgenossen erwarten von der Kirche und ihren Verantwortlichen neben einer persönlichen Glaubwürdigkeit eine inhaltlich überzeugende Argumentation.
Wie aber verlaufen Veränderungsprozesse in der Kirche? Die Kirche erhebt den Anspruch, die Botschaft Jesu Christi und seines Evangeliums durch Zeit und Geschichte hindurch unverbrüchlich weiterzugeben. Dabei spielt das Traditionsargument eine wichtige Rolle: Was vom kirchlichen Lehramt in einer Epoche als göttliche Wahrheit verkündet wurde, das kann später doch nicht falsch sein. So war für Papst Paul VI. das Traditionsargument mit dafür ausschlaggebend, 1968 in Humanae vitae künstliche Mittel der Empfängnisregelung zu verwerfen, weil bereits sein Vorgänger, Papst Pius XI., in der Enzyklika Casti conubii aus dem Jahr 1930 jede Form künstlicher Empfängnisverhütung klar verurteilt hatte; damit war Pius XI. den anglikanischen Bischöfen entgegengetreten, die diese Möglichkeit im selben Jahr auf der Lambeth-Konferenz anerkannt hatten.
Starken Einfluss auf Papst Paul VI. hatte das vorher eingeholte Minderheitsgutachten, das mit Casti conubii auf einer Linie lag. Es war vom Erzbischof von Krakau, Karol Wojtyla, forciert worden. Später als Papst Johannes Paul II. hat er Humanae vitae sehr hoch gewichtet. In einer Sitzung des Priesterrats erzählte Kardinal Lehmann von der ersten Begegnung mit ihm, nachdem er im Jahr 1987 zum Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz gewählt worden war. Der Papst trug seine Erwartung an ihn als Vorsitzenden heran, die Königsteiner Erklärung zurückzunehmen – ein Ansinnen, dem sich der Bischof von Mainz diplomatisch zu entziehen wusste. Freilich war es noch bis zu Papst Benedikt so, dass ein Theologe, der sich kritisch zu Humanae vitae geäußert hatte, nicht mehr auf einen Lehrstuhl hoffen durfte.
Manchmal ist der Einwand zu hören: „Hätten die deutschen Bischöfe auf die »Königsteiner Erklärung« verzichtet, dann stünde die Kirche heute besser da in unserem Land." Ich glaube das nicht. Fehlende inhaltliche Plausibilität lässt sich nicht durch Verweis auf Autorität und Gehorsam kompensieren. In US-amerikanischen Beichtspiegeln wird der Gebrauch empfängnisverhütender Mittel als Sünde aufgelistet. Das heißt aber nicht, dass amerikanische Katholikinnen und Katholiken das auch als Sünde empfinden und in der Beichte bekennen – so die Auskunft amerikanischer Priester während meines USA-Aufenthalts. Ein dauerhafter Dissens zwischen einer lehramtlichen Aussage und der Rezeption durch das Volk Gottes ist ein Indiz, dass um eine Frage weiter theologisch gerungen werden muss.
Welche Rolle spielt Humanae vitae in der Verkündigung von Papst Franziskus? In Amoris laetitia lädt er dazu ein, die Enzyklika von Papst Paul VI. wiederzuentdecken. So sollen die Eheleute zur natürlichen Familienplanung ermutigt werden (Amoris laetitia, 222), aber eine verantwortliche Entscheidung für die Elternschaft sollen sie im Angesicht Gottes letztlich selbst fällen. Aus dieser und anderen Äußerungen lässt sich schließen: Papst Franziskus liegt mit der „Königsteiner Erklärung“ auf einer Linie, in der sich die deutschen Bischöfe im August 1968 insgesamt sehr wertschätzend über Humanae vitae geäußert, den entscheidenden normativen Aspekt freilich der persönlichen Gewissensentscheidung anheimgestellt hatten. Damit ist Humanae vitae ein Fallbeispiel dafür, wie sich kirchliche Lehre weiterentwickelt: Ein früheres Dokument wird zwar grundsätzlich gelobt, aber dessen exklusiver normativer Anspruch nicht mehr wiederholt bzw. anders kontextualisiert. Bezeichnenderweise spielte die Frage, die auf dem Essener Katholikentag die Gemüter so erhitzte, im Forum „Sexualmoral“ des Synodalen Weges keine nennenswerte Rolle mehr. Faktisch gibt also in der Kirche eine dynamische Lehrentwicklung, aber diese geschieht wie in allen Religionen, die es den Anspruch des Göttlichen vertreten, deutlich langsamer, als wir es sonst im medialen und digitalen Zeitalter gewohnt sind.
Ich möchte zwei weitere Varianten nennen, wie sich kirchliche Lehre weiterentwickeln kann:

- Lehrentwicklung durch einen expliziten Paradigmenwechsel: Das markanteste Beispiel hierfür ist das Verhältnis der Kirche zur Religionsfreiheit. Im Jahr 1864 hatte Papst Pius IX. in seiner Enzyklika Quanta cura die Religions- und Gewissensfreiheit als „Wahn“ bzw. „Fieberwahn“ (deliramentum) bezeichnet. Gut 100 Jahre später spricht sich das Zweite Vatikanische Konzil in seiner Erklärung Dignitatis humanae für die Religions- und Gewissensfreiheit aus (Art. 2). Dieser Meinungsumschwung um 180 Grad ist theologisch vertretbar, weil jetzt die Kontextabhängigkeit von Lehraussagen angemessen berücksichtigt wird, meint doch das katholische Traditionsverständnis „nicht eine museale Konservierung unveränderlicher Lehrinhalte, sondern eine lebendige Überlieferung des Glaubens, die sehr wohl ein Voranschreiten der Lehrentwicklung kennt“ – und zwar „als sachlich angemessene Reaktion auf neue Herausforderungen“ im Hier und Jetzt (Schockenhoff: Sexualmoral, S. 210).


- Lehrentwicklung durch pastorale Aufbrüche: Es ist auch auf das theologische Veränderungspotential gelebter und gelungener kirchlicher Praxis zu verweisen. Ich denke an die Bettelorden im Mittelalter oder heute an die Communauté von Taizé, in der die Frische des Evangeliums mit Händen greifbar ist. Ich möchte auch an die Liturgische Bewegung mit Romano Guardini, dem Mainzer Diözesanpriester, erinnern. Die Liturgische Bewegung hat nicht nur eine Vorreiterrolle in der Art und Weise gespielt, wie wir heute Gottesdienst feiern. Im Leitmotiv einer „participatio actuosa“ („tätige Anteilnahme“) hat sie den Volk-Gottes-Gedanken vorbereitet, der einem neuen Bewusstsein der Tauf- und Firmwürde den Weg bereitet hat.

Was aber wird aus dem Synodalen Weg, wenn nächstes Jahr im März die fünfte Synodalversammlung zu Ende gegangen sein wird? Eine Schlüsselrolle fällt hierbei der parallel verlaufenden Weltsynode zu. Nach dem Abstimmungsergebnis der vergangenen Woche werden hier die Anliegen einer erneuerten kirchlichen Sexualmoral nur mit angezogener Handbremse eingebracht werden können. Weil viele Themen des Synodalen Weges keine spezifisch deutschen Themen sind, ist trotzdem nicht auszuschließen, dass die Weltsynode den einen oder anderen Aspekt rezipieren wird. Dabei wäre es wenig zielführend, wenn die deutsche Seite ihre Agenda auf Biegen und Brechen durchsetzen wollte. Das würde von den Teilnehmern der anderen Länder als Ausdruck deutscher Besserwisserei gewertet und Widerstand auslösen. Mit Recht: Zur Synodalität gehört es wesentlich, auf die Meinungen und Erfahrungen der Menschen anderer Länder, Kontinente und Kulturen zu hören und von ihnen lernen zu wollen. Insgesamt bleibt zu hoffen, dass in der Weltsynode eine gute Dynamik in Gang kommt, die auch die Kirche in Deutschland inspirieren und weiterbringen wird.
Papst Franziskus macht keinen Hehl daraus, dass er den deutschen Synodalen Weg skeptisch sieht. Im bereits erwähnten Brief „An das pilgernde Volk Gottes in Deutschland“ vom 29. Juni 2019 hat er seine Gründe offengelegt. Er glaubt nicht, „dass die Lösungen der derzeitigen und zukünftigen Probleme ausschließlich auf dem Wege der Reform von Strukturen, Organisationen und Verwaltung zu erreichen sei“ (sic!), gewissermaßen durch einen „perfekten Apparat“ (Nr. 5). Das ist für ihn eine Form der Selbsterlösung. Stattdessen soll die Evangelisierung das Leitkriterium schlechthin sein und damit die Bereitschaft, das Evangelium zu leben und sich an die Seite von Menschen in Grenzsituationen zu stellen (Nr. 6). Es wäre klug gewesen, wenn der Synodale Weg diese Anregung aufgegriffen und die vier Foren durch ein fünftes „Evangelisierung – Glaubenskommunikation in heutiger Zeit“ ergänzt hätte. Ausführlich wirbt der Papst in seinem Brief um einen Sensus Ecclesiae, der Spannungen auszuhalten bereit ist: „Es geht um das Leben und das Empfinden mit der Kirche und in der Kirche, das uns in nicht wenigen Situationen auch Leiden in der Kirche und an der Kirche verursachen wird.“ (Nr. 9). Denn: „In dieser Welt wird die Kirche nie vollkommen sein“, und es wird uns niemals gelingen, „alle Fragen und Probleme gleichzeitig lösen zu können“ (Nr. 3). Dabei sollen die anstehenden Herausforderungen weder ignoriert noch verschleiert werden; „man muss sich ihnen stellen, wobei darauf zu achten ist, dass wir uns nicht in ihnen verstricken und den Weitblick verlieren“ (Nr. 9). Somit stellt Papst Franziskus den Synodalen Weg in Deutschland nicht grundsätzlich in Frage, er befürchtet jedoch eine Verstrickung und falsche Priorisierung, wenn man glaubt, die perfekte Kirche selbst bauen zu können und dabei die Freude am gelebten Evangelium verliert. Dann ist der Kirchenfrust vorprogrammiert.
Hier möchte ich eine Lanze für Menschen brechen, die beim Synodalen Weg engagiert sind: Vielen von ihnen sind der Glaube und das gelebte Evangelium wichtig. Sie sind keine verkappten Pelagianisten, die auf Selbsterlösung setzen. Manche Struktur in der Kirche ist ihnen ein solches Hindernis und Ärgernis, dass es ihnen und anderen schwerfällt, zur Freude des Evangeliums vorzustoßen. Deshalb treten sie nachdrücklich für Änderungen in der Kirche ein. Der Papst wiederum würde ihnen hierin nicht grundsätzlich widersprechen, aber er würde sie bitten, die Spannung auszuhalten und Reformen nicht erzwingen zu wollen.
Es ist gut möglich, dass es der Reformagenda des Synodalen Weges ähnlich wie der Würzburger Synode ergehen und sie weltkirchlich keinen nennenswerten Widerhall finden wird. Dann ist damit zu rechnen, dass noch mehr Menschen der Geduldsfaden reißt und sie der Kirche den Rücken kehren werden. Sie werden fragen: Warum noch in der Kirche bleiben, wenn sich doch nichts ändert? Auf diese bedrängende Frage gibt der Sozialphilosoph Hans Joas in seinem jüngst erschienenen Buch „Warum Kirche?“ (2022) folgende Antwort: Die Ideale des Christentums können dauerhaft nicht von Einzelnen bewahrt werden, sondern hierzu bedarf es einer Organisation bzw. Institution. Insofern wertet er die Institutionen des Christentums als einen Versuch, die Ideale des Glaubens gegen und in einer Welt zu bewahren, die die Verwirklichung dieser Ideale schwierig macht (S. 36 u. 46). Anders gesagt: Es braucht die Kirche als eine institutionalisierte Form des Christentums, damit dessen Ideale auch in künftigen Epochen nicht in Vergessenheit geraten, ohne dass die Mitglieder der Kirche (anders als die einer Sekte) selbst beanspruchen, diese Ideale vollumfänglich zu leben.
Im Neuen Testament findet sich das Gleichnis vom „Schatz im Acker“ (Mt 13,44): Hier ist von der Freude die Rede, die den Mann antreibt, alles auf eine Karte zu setzen, um an den Schatz zu gelangen. Dabei nimmt er den Acker gewissermaßen in Kauf. Es gehört wohl zum Christsein dazu, nicht nur den Schatz des Evangeliums in Reinform erwerben zu können, sondern gewissermaßen den Acker der Kirche – mit seinem fruchtbaren Boden, aber auch mit dem Unkraut und den Steinen – mit in Kauf nehmen zu müssen.